von Elisabeth Grupp
„Wer Herzen gewinnen will, muss sein eigenes Herz zum Pfand geben.“ (Adolf Kolping )
Oma, erzähl mir ein Märchen
Das Telefon klingelt. Beim Abnehmen sagt eine Kinderstimme: „ Hallo, Oma erzähl mir das Märchen: Der Wolf und die sieben Geißlein.“
Von meinen zehn Enkelkindern war Julius der einzige, der am Hörer geduldig lauschte.
Es musste immer das gleiche Märchen sein, im selben Wortlaut und ohne Abweichungen. Nach dem Erzählen der sieben Geißlein musste danach seine Mama für Julius den Wolf aus dem Brunnen heraus holen.
Begegnung mit einer Märchenforscherin
Während einer Zugreise kam ich mit einer mir gegenüber sitzenden Frau ins Gespräch. Es stellte sich heraus, dass sie Märchenforscherin war. Ihre großen sprechenden Augen zogen mich in ihren Bann, als sie über das Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein sprach.
Es blieb mir im Gedächtnis, dass die sieben Geißlein die sieben lebenswichtigen Organe darstellen und die Uhr das Herz symbolisiere. Solange das Herz/die Uhr schlage bestehe das Leben.
Nie hörte ich eine feinere Auslegung dieses Märchens.
Märchen haben für Kinder eine wichtige Funktion. Es ermöglicht ihnen in ihre Seele und zugleich in ihr Herz einzutauchen, um zu träumen, in einer Welt die nur ihnen gehört.
Die Handlung eines Märchens ist immer knapp gehalten; was einem Kind die Möglichkeit gibt, eigene Wünsche einzubauen und ihm hilft, Ängste zu überwinden. Beim Erzählen ist das Denkvermögen an die kindliche Vorstellungskraft angepasst.
Das Herz tut sich auf
Nur ein Kind ist in der Lage so ehrlich und inniglich zu sagen: „Oma ich hab dich lieb“.
Kürzlich meinte ich beim Autofahren, dass der verstorbene Opa nicht mehr Autofahren könne. Darauf sagte der vierjährige Linus: „ Der Opa hat Flügel und kann überall hinfliegen, er ist im Himmel und jetzt unser Schutzengel“!
Annika, die dreijährige, bückte sich über das Grab, legte die Hand vor den Mund und sagte: „Opa, ich lade dich zu meinem Geburtstag ein“.
Im Nachhinein bedauere ich sehr, keine meiner beiden Großmütter gekannt zu haben. Es ist für die Seele ein nicht zu stillendes Herzensbedürfnis, es fehlt im Leben etwas Fundamentales.
Eine Geschichte, die das Herz berührt
Beim Surfen im Internet fand ich ein Märchen von Manuele Ridder, das ich wie folgt zitiere:
Das schönste Herz
Eines Tages stand ein junger Mann in der Stadt und erklärte, dass er das schönste Herz im ganzen Umkreis habe. Eine große Menschenmenge versammelte sich – und sie alle bewunderten sein Herz, denn es war perfekt. Es gab keinen Fehler in ihm. Ja, sie alle gaben ihm Recht, es war wirklich das schönste Herz, das sie je gesehen hatten.
Der junge Mann war sehr stolz und prahlte noch lauter über sein schönes Herz.
Plötzlich tauchte ein alter Mann vor der Menge auf und sagte: „Nun, dein Herz ist nicht mal annähernd so schön wie meines.“
Die Menschenmenge und der junge Mann schauten das Herz des alten Mannes an. Es schlug kräftig, aber es war voller Narben, es hatte Stellen, wo Stücke entfernt und durch andere ersetzt worden waren. Aber sie passten nicht richtig und es gab einige ausgefranste Ecken, genauer gesagt – an einigen Stellen waren tiefe Furchen, wo ganze Teile fehlten.
Die Leuten starrten ihn an: „Wie kann er behaupten, sei Herz sei schöner“, dachten sie.
Der junge Mann schaute auf des alten Mannes Herz, sah dessen Zustand und lachte: „Du musst scherzen“, sagte er, „dein Herz mit meinem zu vergleichen. Meines ist perfekt und deines ist ein Durcheinander aus Narben und Tränen.“
„Ja,“ sagte der alte Mann „deines sieht perfekt aus, aber ich würde niemals mit dir tauschen. Jede Narbe steht für einen Menschen, dem ich meine Liebe gegeben habe. Ich reiße ein Stück meines Herzens heraus und reiche es ihnen und oft geben sie mir ein Stück ihres Herzens, das in die leere Stelle meines Herzens passt. Aber weil die Stücke nicht genau sind, habe ich einige raue Kanten, die ich sehr schätze, denn sie erinnern mich an die Liebe, die wir teilten.
Manchmal habe ich auch ein Stück meines Herzens gegeben, ohne dass mir der andere ein Stück seines Herzens zurückgegeben hat. Das sind die leeren Furchen.
Liebe geben heißt manchmal auch, ein Risiko eingehen. Auch wenn diese Furchen schmerzhaft sind, bleiben sie offen, und auch sie erinnern mich an die Liebe, die ich für diese Menschen empfinde und ich hoffe, dass sie eines Tages zurückkehren und den Platz ausfüllen werden.
Erkennst du jetzt, was wahre Schönheit ist?“
Der junge Mann stand still da und Tränen rannen über seine Wangen. Er ging auf den alten Mann zu, griff nach seinem perfekten jungen und schönen Herzen und riss ein Stück heraus. Er bot es dem alten Mann mit zitternden Händen an. Der alte Mann nahm das Angebot an, setzte es in sein Herz. Er nahm dann ein Stück seines alten, vernarbten Herzens und füllte damit die Wunde in des jungen Mannes Herz. Es passte perfekt, da es ausgefranste Ränder hatte.
Der junge Mann sah sein Herz an, nicht mehr perfekt, aber schöner als je zuvor, denn er spürte die Liebe des alten Mannes in sein Herz fließen.
Sie umarmten sich und gingen weg – Seite an Seite.
Narben auf dem Körper bedeuten, dass man gelebt hat……..
Narben auf der Seele bedeuten, dass man geliebt hat………