von Erna Subklew
Ebenso wie die Menschen mit ihren Bräuchen und Sitten einem ständigen Wandel unterworfen sind, wandelt sich auch die Einstellung zur Nachbarschaft und den Nachbarn. Die Nachbarschaft, die meine Mutter erlebt hat, habe ich nicht mehr kennengelernt. Selbst während meines Lebens hat sich die Form der Nachbarschaft gewandelt.
Nachbarschaft um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert
Meine Großeltern hatten in einer Arbeiterstadt, die kurz nach 1900 aus vier verschiedenen Dörfern gebildet wurde, ein Haus gebaut. Es hatte vierzehn Wohnungen. Davon bestanden zehn aus zwei Zimmern und Küche, eine aus drei Zimmern und die übrigen aus Küche und Stube. Das Wasser musste man sich im Treppenhaus holen, und die Toiletten waren auf dem Hof. Zu den Wohnungen gehörte jeweils noch ein Keller, vorwiegend zum Aufbewahren von Lebensmitteln und im Hof ein kleiner Stall für die Kohlen. Wie viele Quadratmeter so eine Wohnung hatte, weiß ich nicht genau, ich meine aber, es wären so ungefähr sechzig gewesen sein.
In diesem Haus wohnten zu der Zeit als meine Mutter Kind war, ungefähr sechzig Personen. Zweidrittel von ihnen waren Kinder. Sie hatten allerdings das Glück, dass das Haus einen großen Hof hatte, auf dem man spielen konnte. Sehr laut durften die Kinder aber nicht sein, denn immer gab es ja Männer, die am Tage schliefen, weil sie in der Grube Nachtschicht hatten.
Das Miteinander-Leben
Die Hausordnung musste genau eingehalten werden. So sollten die Frauen nicht schwätzend im Treppenhaus herumstehen. Trotzdem bekam man viel vom Leben der Nachbarn mit, wann sie aufstanden oder schlafen gingen, bis zum Kochen und dem Essen, das auf den Tisch kam, vor allem an Feiertagen. Wenn es aus einer Wohnung an Weihnachten nicht nach Gans roch, wusste man, dass es wieder einmal bei der Familie sehr knapp zuging.
Bei so vielen Kindern gingen natürlich auch mehrere in dieselbe Schule oder sogar dieselbe Klasse. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Zahl der Mieter langsam aber stetig weniger. Trotzdem blieben das Wissen und auch Helfen gleich intensiv.
Die Siedlung
Meine Kindheit verlebte ich in einer ganz anderen Nachbarschaft. Wir wohnten in einer neu erbauten Siedlung. Die Wohnungen hatten alle wenigstens drei Zimmer und ein Bad. Die Küchen schauten alle auf einen Innenhof mit Spielplatz. Die Mütter, von denen die wenigsten arbeiteten, konnten ihre Kinder gut überwachen. Die meisten Familien hatten nur zwei, höchstens drei Kinder. Diese spielten zusammen im Innenhof und gingen auch gemeinsam in die Schule. In jedem Haus wohnten nur sechs Familien. Aber auch hier kannten sich die Mieter alle recht gut und halfen einander und feierten auch zusammen, keine Straßenfeste, sondern die traditionellen Feiertage, wie Kirchweih und Neujahr. Wenn meine Mutter ins Theater ging, passte eines der älteren Mädchen auf mich auf.
Man bekam es nicht mehr so stark mit, was der Nachbar kochte, aber man wusste genug von ihm, um zu wissen, wann er Hilfe brauchte.
Und ich merke es jetzt bei der May-Siedlung, die in unserem Stadtteil liegt, wie die ersten Bewohner bis heute zusammenhalten, sich kennen und jetzt, da sie alt sind, immer noch für einander da sind und schließlich, wenn einer von ihnen stirbt, am Begräbnis teilnehmen.
Nachbarn aus aller Herren Länder
Ganz anders war es dann in Istanbul. Wir wohnten auf dem Werksgelände, zusammen mit einem Teil der im Werk Beschäftigten. In dem Haus, in dem wir lebten, wohnte auf unserem Stockwerk ein Armenier. Über uns wohnte die deutsche Familie Thal, Vater, Mutter und eine Tochter, neben ihnen der türkische Direktor.
In der kleinen Villa, einige Schritte vom Haus entfernt, wohnte der italienische Direktor mit seiner russischen Frau.
Zu den Feiertagen mussten wir Kinder mit Blumen zu beiden Direktoren gehen und ihnen gute Feiertage wünschen. Das fanden wir immer sehr schön, denn die eine Familie hatte einen niedlichen Hund, mit dem wir dann spielen durften und die andere fuhr mit uns als Dankeschön irgendwohin an den Bosporus.
Weitere Nachbarn
Ja und ein wenig weiter wohnte die Familie Hill, eine dem Pass nach tschechische Familie, wobei Herr Hill ja eigentlich Ungar war und seine Frau Russin, mit ihren zwei Töchtern. Und etwas außerhalb des Werksgeländes wohnte noch der polnische Ingenieur mit seiner russischen Frau und das tatarische Ehepaar, das die Kantine bewirtschaftete. Und wir fühlten uns alle als Nachbarn. Wenn es keine gute Nachbarschaft gegeben hätte, wäre es für uns fünf Kinder unmöglich gewesen die Schule zu besuchen. Denn ehe unsere Väter es durchsetzen konnten, dass ein Schiff fuhr, musste uns immer eine der Mütter bei der Kahnfahrt begleiten.
Als dann das Werk verstaatlicht war und alle unsere Nachbarn entlassen wurden, war es, als ob man uns etwas amputiert hätte.
Heutige Nachbarschaft
Nun wohnen wir schon ein halbes Jahrhundert in Frankfurt. Und obwohl wir Eingeplackte sind, haben wir es eigentlich nicht schwer gehabt, uns in die Nachbarschaft zu integrieren. Dazu trugen sowohl unser Geschäft bei, aber vor allem auch die Kinder. In jedem Haus, ob rechts von uns oder links, gab es Kinder. Der Altersunterschied war nicht groß. Sie gingen zusammen in den Kindergarten und in die Schule, aufs Gymnasium und zur Uni, und mehrere dieser ehemaligen Schüler wohnen auch jetzt wieder in dieser Straße, nachdem sie kurzfristig oder auch länger, den hiesigen Stadtteil verlassen hatten. Als sie dann Kinder hatten, gingen diese wiederum gemeinsam zur Schule. Die Straße ist nicht sehr lang, aber aus drei Häusern waren es zeitweise immerhin acht bis neun Kinder.
Wie die Mütter früher gemeinsam in die Schule gingen, joggen sie heute gemeinsam um fit zu bleiben.
Die heutigen Bewohner unserer Straße
Auch heute noch ist das Verhältnis der alten Bewohner zueinander ein gut nachbarschaftliches. Von den ursprünglichen sind natürlich nur noch einige wenige da. Viele neue Mieter ziehen nicht hierher. Die Kinder der ursprünglichen Bewohner sind inzwischen auch schon nahe am Rentenalter.
Eigentlich gibt es nur noch ein Haus, wo ein häufiger Wohnungswechsel erfolgt, da es dort zwei Wohngemeinschaften gibt. Aber von den Bewohnern bekommt man kaum etwas mit, denn tagsüber sind sie bei ihrer Arbeit und einen Garten bewirtschaften sie nicht. Kinder, die zu einer guten Nachbarschaft führen würden, gibt es auch nicht. Ja es gibt nicht einmal Hunde.